Eingeständnisse eines Aussiedlers

Der Klang der Kabaschflöte lag säuselnd in meinen Ohren. Der schwere Rauch von Mohacca und Zitabba lag drückend in der Luft und die Wirkung sämtlicher verschiedener Kräuter, die ansonsten noch die Luft in der Sultani Nahema schwängerten taten ihr Übriges, die einschläfernde Stimmung, in der ich mich befand, noch weiter zu verstärken. Auch Durhang war dabei, eine erst seit wenigen Wochen in den Kaffeehäusern und Dar-Shishas Kunchoms kursierende Spezialität, die angeblich vom Tempel der Mondschleier aus vertrieben wurde. Jedenfalls waren das die Gerüchte, welche in der Akademie die Runde machten.

Ich für meinen Teil machte mir nicht viel aus Rauschkräutern oder auch Rauschmitteln aller Art. Zumindest im Vergleich zum Rest meiner Begleiter in der Sultani Nahema. Von denen war jedoch nur noch Perdhita übrig und auch sie dämmerte in einem Zustand, der dem Träumen näher war als dem Wachen, in den tiefen Kissen mir gegenüber – den Schlauch der großen Wasserpfeife, welche fast den gesamten Tisch vor uns ausfüllte – immer noch leicht wippend vor den Lippen.

Für mich war das Sitzen auf Kissen zu ebener Erde immer noch etwas ungewohnt, vor allem aber als Dauerzustand unbequem. Auf der anderen Seite verleitete es einen allzu sehr, sich in die Berge aus gefülltem Leinen, ausgestopfter Seide und sonstigem Stoff zurückgleiten zu lassen und dem Geist Raum zu geben, dahinzutreiben.

Einer der Bediensteten der Sultani kam leise an unseren Tisch und tauschte schweigend die bis auf Feigenkerne und Granatapfelreste leere Schale gegen eine volle aus, in der nun noch mehr Südfrüchte enthalten waren, als zuvor. Perdhita aß in der Regel nicht viel, außer wenn sie in ähnlichem Zustand war wie noch vor zwei großen Sanduhren. Das lag – wie ich aus eigener Erfahrung ebenfalls wusste – an dem nunmehr nur noch vor sich hin schwelenden Inhalt des Tonkopfes auf der Spitze der Messingrauchsäule unserer Wasserpfeife.

Ja, es ließ sich schon leben hier in der Perle im Manadhi-Delta. Das Wetter war nahezu nie schlecht. Die Sonne schien eigentlich das ganze Jahr über. Regen war ein seltenes Ereignis. Efferd hatte dem Land den Fluss geschenkt, damit schien er es jedoch auf sich bewenden zu lassen und verteilte seine Gaben ansonsten nur spärlich über dem Großemirat. Was mir nur recht sein konnte.

Ansonsten war Kunchom vor allem eines: Emsig. Die Stadt schlief quasi nie. Geschäftige Betriebsamkeit herrschte nahezu überall. Aber wen sollte das bei so vielen zigtausend Bewohnern auch wundern. Es gab eigentlich nichts, das es nicht gab. In der Stadt konnte man über die richtigen Quellen im Grunde alles kaufen, das für Geld zu erwerben war.

Und der Tulamide an sich ist ein freundlicher Geselle. Für meine Begriffe zu kriecherisch, zu geschwätzig und zu reißerisch, aber wenigstens immer hilfsbereit und in den allermeisten Fällen vor allem diskret. Dies macht dieses Land und Kunchom insbesondere sehr reizvoll, insbesondere aus wissenschaftlicher Sicht. Ein jeder geht hier seinen Geschäften nach. Man hilft sich, wenn dies von Vorteil ist und geht sich ansonsten zumeist aus dem Weg. Kurzum, die Tulamiden sind einfach ein Krämervolk.

Doch ihre kulturellen Errungenschaften und Annehmlichkeiten sind auch mir mehr als nur ans Herz gewachsen. Es beginnt schon damit, dass die Stadt viel sauberer ist, als alle Städte die ich im Norden gesehen habe. Badehäuser stehen nahezu an allen Ecken. Und überall gibt es leckere Speisen zu erstehen. Gesüßte Milch mit Honigwein und Datteln bei einem Spiel Urdas. Gefüllten Manadhiseibling aus dem Mündungsdelta mit Drachenfruchtkompott an Silberberger Weißweinsoße und dazu Jerganischer Duftreis oder Festumer Süßkartoffeln. Ja, die kulinarischen Vorzüge sind von einzigartiger Vielfalt.

Nachts erwacht die Stadt dann unter Lichtmeeren aus Lampignons und Buntglaslaternen zum Leben. Die Menschen ziehen lachend durch die Straßen, besuchen die verschiedensten Gasthäuser, Theatervorstellungen, Freudenhäuser oder Freunde und Verwandte. Und oftmals sammeln sie sich in Scharen um den Geschichten eines berühmten oder schlichtweg talentierten Haimmamuds zu lauschen.

Da mutet es mir selbst bisweilen fremdlich an, dass meine Stimmung in letzter Zeit hin und wieder nicht zu dem bunten Treiben auf den Straßen und Plätzen dieser Stadt passen mag; denn eigentlich ist alles gut, so wie es im Moment ist. Und das ist noch untertrieben, wenn man ehrlich ist. Seit unserer Rückkehr aus dem tiefen Süden läuft es sogar prächtig.

Ich bin reicher, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich bin erfolgreicher, als meine eigenen Ambitionen vor wenigen Jahren das jemals hätten vermuten lassen. Mein Name steht unter nunmehr bereits sechs großen wissenschaftlichen Publikationen, von denen zwei bereits im Hesindespiegel veröffentlicht wurden und der Rest mittlerweile wohl zumindest jede graue und weiße Schule südlich der Linie Salza – Ilsur erreicht haben dürfte.

Meine Unternehmungen im medizinischen Bereich, allen voran der Chirurgie und Wundheilung laufen gut.

Ich bin der jüngste Dozent an der Dracheneiakademie und das sogar für den repräsentativsten Hausspruch der Schule, den Arcanovi; gut, zugegebenermaßen nur im Tutorium, aber für mehr ist bei meinen eigenen Studien ohnehin kaum Zeit.

Auch mit Perdhita läuft alles blendend. Auch wenn ich es nie für möglich erachtet hätte, dass Beziehungen zwischen Mann und Frau derart – nunja – offen sein können. Ich muss gestehen, dass ich diese Frau wohl noch lange nicht durchschaut habe; bisweilen ängstigt sie mich sogar etwas, zum einen mit ihren teils abstrusen weltphilosophischen Ansichten, aber maßgeblich wegen ihrem Umgang mit Rauschkräutern und Alchemicas.

Auf der anderen Seite ist sie auch der lebende Beweis dafür, wieviel schädlichen Einwirkungen man dem menschlichen Körper in Form von “Giften” tatsächlich aussetzen kann, ohne, dass sich (bis dato) wirklich ernsthafte Folgen und Nebenwirkungen zeigen.

Und trotzdem ist es gerade ein Satz, den Perdhita vor einigen Tagen erst gesagt hat, der mir im Kopf herum spukt und seinen Weg nicht mehr nach draußen finden will.

Ich weiß gar nicht wieso du manchmal so bist – uns fehlt doch im Moment hier nichts.

Aber das tut es. Es fehlt etwas. Mir fehlt etwas. Ich weiß es eigentlich schon lange. Manche Dinge möchte man sich nicht eingestehen; maßgeblich wahrscheinlich, weil sie nicht in das eigene, selbst mühsam konstruierte und lieb gewonnene Selbstbild passen. Weil sie da sind, man sie aber nicht wahr haben möchte, sondern lieber die Augen schließt und so tut, als wären sie es auch nicht. Und so klingt es auch für mich selbst albern und lächerlich, aber das ändert an der Tatsache an sich nichts. Das wirklich Ironische ist, dass ich für mich selbst eine fast kindische Befürchtung bestätigt sehe, die mich begleitet hat, seit ich in den Süden gekommen bin. Es mag abgenommen haben, dennoch tritt es in der ein oder anderen Situation wieder zu Tage; meist in Form von kleinen Wortsticheleien durch meine Kameraden, die dann auch sofort wieder vom Äußernden fallen gelassen werden. Ebenso wie die Kommentierungen zu Verhaltensweisen, Kultur und Gedankengut. Aber trotz allem lässt es sich nicht wegdiskutieren und ich muss im Umhang des Durhang selbst lächeln, als der Gedanke sich in leisen Worten seinen Weg aus meinem Inneren nach außen bahnt:

Mir fehlt der Wald.

Mir fehlen die Bäume.

Mir fehlt der Geruch von Laub und Moos. Mir fehlt das Knacken von Ästen unter meinen Stiefeln; das sanfte Licht, das nur in einzelnen, dünnen Bahnen sein Ziel im torfigen Untergrund findet; das Geräusch von kleinen Tieren, die im dichten Unterholz herumrascheln und von Vögeln, die in den Wipfeln unter dem scheinbar undurchdringlichen Baldachin ihre Nester bauen. Mir fehlt das Gefühl von alter, knorriger Rinde, wenn ich mit der Hand über den Stamm einer borkigen Eiche gleite; das Wispern der Jahrhunderte alten Bäume im Wind; die Vertrautheit und Geborgenheit, die die großen Wälder vermitteln. Das Gefühl von Heimat.

Ich möchte einmal wieder durch den Steineichenwald reiten; möchte die Farne und Schößlinge sehen, die nach Leibeskräften versuchen ihren Teil des Lichtes zu erhaschen; möchte das Rauschen eines Quellbaches hören; auf die schwarze, spiegelglatte Oberfläche eines Moorsees blicken. Ich möchte barfuß durch das bunte Laub des frühen Herbstes wandern, meine nackten Zehen tief in den Mutterboden des Steineichenwaldes graben…

Ich möchte gerne wieder einmal nach hause.

Ein schmatzendes Geräusch holt mich zurück aus dem Schleier meines Traumes und hinein in die dichten Vorhänge aus Stoff und Rauchschwaden der Sultani Nahema. Der Geruch von Moos, Farn und feuchten Blättern weicht demjenigen des süßlichen Zithaba. Perdhita hat den Schlauch der Wasserpfeife nun endgültig aus dem Mund verloren. Ihre Lippen suchen noch in halbherzigen Versuchen, den längst zu Boden Gesunkenen noch zu erreichen, doch vergeblich.

Ich blicke sie aus einem wässrigen blauen und einem regungslos roten Auge an und bin mir nicht mehr sicher, ob ich meine Gedanken für mich behalten oder leise vor mich hingemurmelt habe.

Abwesend und dämmrich tastet Perdhita mit der Hand um sich. Sie findet die meine; und ergreift sie schwach.

Ob sie dies tat, weil sie mich gehört hat oder weil es auf ihrer schummrigen Suche nach dem Schlauch der Pfeife das erste war, das ihr in die Finger fiel, weiß ich nicht.

Ich weiß nicht einmal, was von beidem mich mehr beunruhigen würde.