Beruhigend knistert das Feuer im Kamin meines Arbeitszimmers. Mollige Wärme erfüllt den ganzen Raum. Schatten tanzen munter über die umstehenden Regale, die mit den Büchern in ihren verschiedensten Größen ein wahrhaft schweres Gewicht zu tragen haben.

Langsam und bedächtig drehe ich das Glas in meiner Hand in stetigen, kreisenden Bewegungen; schwermütig sind meine Augen auf die tiefrote Flüssigkeit in seinem Inneren gerichtet. Gedankenverloren und in Erinnerungen schwelgend bin ich ein leichtes Opfer für Bishdariel, der mich langsam und tragend in sein Reich geleitet. Nur noch leise nehme ich die Stimmen der anderen Personen in meinem Arbeitszimmer wahr. Vertrautheit und Geborgenheit sind das Seil, das sie dem Herrn der Träume in die Hand legen, Anstrengung und ein erfüllter Tag die Straße auf der er mich führt. Seit sehr langer Zeit habe ich einmal wieder dieses Gefühl, das mir schon beinahe fremd geworden ist; so fremd, dass ich in meinem dämmrigen Zustand zwischen Wachen und Schlaf lange brauche, um es in Worte zu fassen; und doch ereilt es mich langsam aber gewiss aus den Tiefen meines Bewusstseins. Unbekümmertheit. Die Gewissheit, sich gerade in diesem Moment über nichts unter Alverans weiten Gefilden Sorgen machen zu müssen; und so driftet mein Geist dahin, begleitet von den langsam verklingenden Stimmen meiner langjährigen Gefährten, weg von meiner vertrauten Umgebung und hinein in Bishdariels Reich.

Beunruhigend knistert das Feuer in der kleinen, hektisch ausgehobenen Grube. Ein kalter Wind streift mich im Nacken und veranlasst mich, meinen Bauschmantel enger um mich zu ziehen und die weite Kapuze über mein zerzaustes Haar zu streifen. Düstere Schatten springen, von dem kleinen Grubenfeuer angestachelt, in der Umgebung umher und tanzen in der Stille des Waldes einen gespenstischen Reigen. Nervös blicke ich von dem Zinnbecher mit der schwarzen, bitteren Flüssigkeit darin zu dem neben mir sitzenden Tulamiden. Das Gesicht meines Freundes ist angespannt; seine kleinen braunen Augen starren angestrengt in die Dunkelheit. Seine Miene ist von grimmiger Entschlossenheit, fast so, als wolle er die Finsternis allein mit seinem Willen zum Zurückweichen zwingen.

Um mich herum sind nur das Ächzen der Bäume und der unruhige Schlaf meiner langjährigen Gefährten zu hören. All meine Gedanken sind hier und jetzt auf die Gegenwart gerichtet und auch wenn ich es mir auszureden versuche, so dominiert doch die Furcht in meinem Verstand. Wie lange wir jetzt schon auf der Flucht vor Borbarads rechter Hand sind weiss ich nicht mehr genau; mehr als vier Tage können es wohl kaum sein, jedoch kommt es mir jetzt schon wie eine kleine Ewigkeit vor. Wenn ich an die Ungewissheit unseres restlichen Weges denke, keimen in mir Zweifel über das Gelingen unseres Vorhabens.

Erneut spüre ich die Kälte, die mir mit eisiger Hand, alle Kleidung negierend, über den Rücken streicht; doch diesmal ist es anders. Diesmal ist es mehr als nur der Wind. Dieser trägt mir nur Tarans geflüsterte Worte zu. Nicht umdrehen. Die Eindringlichkeit in seiner Stimme schnürt mir die Brust zu und ich halte notgedrungen den Atem an. Das Gefühl der Kälte bohrt sich weiterhin durch meinen Mantel, direkt von hinten in mein Herz. Unfähig die Anweisung meines Freundes zu befolgen drehe ich langsam den Kopf.

Nur einen Herzschlag später erkenne ich meinen Fehler. Im Dunkel zwischen den Bäumen steht ein Schatten, schwärzer als die Nacht selbst. In weiten, wallenden Roben sehen mich unter finsterer Kapuze zwei niederhöllische, rot glühende Augen an. Das Gefühl der Kälte bemächtigt sich nun endgültig meines Verstandes und für einen kurzen Augeblick bin ich unfähig auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Die Furcht übermannt mich, schlägt wie eine unheilige Woge über meinem Herz und meinem Geist zusammen und droht, meine Seele in die unendliche Finsternis der Wesenheit mitzureissen. Fassungslos und panisch sind meine Augen starr auf die wabernden Schattenumrisse der Entität vor mir gerichtet, in deren Inneren tief rot die glühenden Kohlen des Herrn der Rache brennen. Ich versuche mich dagegen anzustemmen, versuche mein Selbst zu sammeln und im Namen von allem, was gut und gerecht ist dieser Ausgeburt der Niederhöllen mit der Macht meines Glaubens Einhalt zu gebieten; doch mein Ruf gen Alveran wird nicht gehört. Verzweiflung übermannt mich und der Gedanke, meiner panischen Angst freien Lauf zu lassen und aufzugeben, mich umzudrehen und zu rennen, schneller als ich jemals gerannt bin und alles hinter mir zu lassen, selbst mein eigenes Schicksal und das meiner Gefährten, wird immer verführerischer.

Doch jäh endet der Augenblick des Stillstandes. Ein formloser Arm wirft sich mir entgegen und entblößt einen schwarzen Strich, wie ein Riss im Weltengefüge. Er bahnt sich seinen Weg zu mir schneller als meine erschreckten Augen ihm folgen können und erst als er sich um meinen Hals wickelt, weiss ich, wie mir geschieht. Doch da ist es zu spät. Mit einem heftigen Ruck wird mein Körper von dem Baumstumpf gerissen, auf dem er gerade noch saß und wie ein wehrloser Fisch am Haken von seinem teuflischen Häscher eingeholt.

Schmerzen branden durch mein Bewusstsein; ein erstickter Laut verlässt meine Kehle; Gras, Moos und Zweige peitschen mir ins Gesicht und hinterlassen blutige Furchen. Die Panik steigt ins Unermessliche. Mein Ende erwartet mich am Ursprung der Peitsche. Der wallende Schatten rückt näher, zieht mich unaufhaltsam auf sich zu. Ein Henkersschwert taucht in der zweiten Hand des Rachegeistes auf. Geschrei bricht aus; überall um mich herum. Namen werden gerufen. Wolfhart, Durin! Wahnfried, Lilu! Es sind die Namen meiner Gefährten; meiner Freunde seit so vielen Jahren. Auch mein Name ist dabei. Yann.

Yann Fuxfell. Der Straßenjunge aus Havena. Ist das also das Böse Ende, das es einmal laut seiner Mutter mit ihm nehmen solle? Der Junge, der einfach fort ging, ohne Auf Wiedersehen zu sagen. Der seitdem Trollen begegnet war, der die Stadt des Lichts, die Marktplätze Festums, die Inseln vor Thorwal besucht hatte; fremde Länder gesehen; das horasische Kronsiegel gestohlen, das Blutharsch überlebt und das Volk der Brilliantzwerge gerettet hatte; der Junge, der das Herz der schönsten Frau Deres erobert und sein eigenes dafür eingetauscht hatte; sollte dieser Junge sie niemals wieder sehen? Nie mehr den Duft ihrer Haare riechen und die Sanftheit ihrer Berührungen spüren; sollte sein Leben und das seiner Freunde, seine Liebe zu ihnen und zu ihr – sollte das alles hier sein böses Ende nehmen?

‘Genug!’

Das Wort, mit kräftiger und entschlossener Stimme gerufen, schallte über die kleine Waldlichtung und vertreibt mit einem Mal die Düsteren Schatten.

Ich schlage die Augen auf und realisiere die besorgten Gesichter meiner Freunde, die mich allesamt entsetzt und überrascht anblicken. Vor mir auf dem Boden des schummrig heißen Kaminzimmers breitet sich eine dunkelrote Lache aus. Für einen Moment steigt erneut die Panik in mir auf und gehetzt blicke ich auf meine Brust, um dort mein weisses Leinenhemd unbeschadet vorzufinden. Den Zwölfen sei Dank!

Abrupt stehe ich auf, taste unwillkürlich dach dem Halstuch, das ich seit einigen Jahren trage und lockere den Knoten etwas. Dann blicke ich zu meinen Freunden, die immer noch besorgt zwischen mir und dem auf den Holzdielen zersprungenen Weinglas hin und her blicken.

‘Es war nur ein Traum’, sage ich und ziehe mich fröstelnd in Richtung meines Schlafgemachs zurück.

Manchmal scheint es schier unfassbar, dass ich noch lebe. Nach all dem, was ich gesehen und erlebt habe. Nach all dem, was mein Körper, mein Geist und auch meine Seele haben ertragen müssen. Und trotzdem stehe ich nun hier. Yann Fuxfell von Havena. Der Vogtvikar Albernias. Doch zu welchem Preis?

Ich schicke nach Melcher und heiße ihn, sich um den Boden im Arbeitszimmer zu kümmern.