Iudex ergo cum sedebit,
Quidquid latet apparebit:
Nil inultum remanebit.1

6. Choral Praios, De Iustitia, 2. Strophe, dritter Vers

 

I.

Malrira trug die schweren Wassereimer durch die brennende Glut der aranischen Mittagssonne. Der Geruch von kalter Asche, verkohlten Häusern und verbranntem Fleisch lastete immer noch schwer über der Stadt.

Die junge Frau blickte sich stetig um, nahm alle Eindrücke in sich auf. Sie war noch immer wie betäubt. Es war alles so schnell gegangen.

Narhuabad war keine unbedeutende Stadt auf dem Weg von Zorgan nach Keshal Taref und von dort weiter nach Elburum. Sie lag auf einem der Haupthandelswege und viel fahrendes Volk, Händler und Reisende waren in früheren Tagen durch diesen Teil Araniens gezogen. Heute war dies nicht mehr so.

Malrira dachte unwillkürlich zurück. Doch ihre eigenen Gedanken kamen ihr vor wie Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Ereignisse, wie man sie aus Erzählungen der Haimamudim kennt. Verklärt durch die Kinderaugen, mit denen man sie gesehen hat. In ihrer Bedeutung und ihrem Inhalt emporgehoben durch die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage und Wochen. Eine Zeit, so golden wie das Licht der Abendsonne und so süß wie Minztee aus Nasir Malkid, angerührt mit Barbücker Honig und genossen im Kreis von Freundinnen am Rande des vormittäglichen Markttreibens an einem Wassertag im Peraine.

Sie spürte das Kribbeln förmlich auf der Zunge. Den feinen und doch intensiven Hauch des Teearomas der ihr in die Nase strömte; hörte das glockenhelle Lachen ihrer Freundin Yasmina, das sie so geliebt hatte; genoss die wohltuende Wärme und das Gefühl der Unbeschwertheit und Vertrautheit.

Der laut gebrüllte Befehl in der harten Sprache der Fremden riss Malrira aus ihren Gedanken. Schwerer Hufschlag war hinter ihr zu hören. Sie drehte gerade noch rechtzeitig den Kopf um das riesige Schlachtross heranreiten zu sehen. Der Mann, der auf dem Rücken des Tieres saß hätte genauso gut einem Alptraum entsprungen sein können. Obgleich sitzend kam ihr die Gestalt riesig vor. Reiter und Ross waren in schwarz brünnierten Stahl gerüstet. Ein roter Umhang flatterte hinter dem reitenden Giganten einher. Sein Gesicht war unter einem Helm mit heruntergelassenem Visier verborgen und sein Weg links und rechts der Straße von hastig fallen gelassenen Gegenständen und erschrocken dreinblickenden Gestalten gesäumt, die sich unbeholfen aus dem Staub wieder aufzurappeln begannen.

Hastig sprang auch Malrira zur Seite, wobei sie ihre Eimer nicht im Gleichgewicht halten konnte und sich das kostbare Wasser im schwappenden Schwall aus den Holzgefäßen auf den trockenen Untergrund ergoss, wo es sogleich zu versickern begann.

Ohne ihren beherzten Sprung hätte der Ritter sie einfach niedergeritten. Als er an ihr vorbeipreschte erkannte sie noch das Wappen auf dem Schild, welchen er an der Seite trug. Viergeteilt. Ein Baum, ein Stier, ein Bär und ein schlichtes, blau-weißes Feld.

Der Mann selbst musste weit über zwei Schritt groß sein und von entsprechender Statur war auch sein Pferd, sodass sich Malrira klein wie ein Kind vorkam, als sie ihre beiden Eimer wieder auszubalancieren versuchte, um zumindest noch den Rest des Wassers zu bewahren.

Missmutig aber ohne ein Wort der Entrüstung laut auszusprechen kehrten die Menschen auf die Straße zurück. Ob der Aufschrei aus Überraschung oder schierer Furcht ausblieb, konnte Malrira nicht sagen. Sie selbst war wütend. Wütend über das rücksichtslose Verhalten des Fremden. Wütend über sich selbst, weil auch sie die Stimme nicht erhoben hatte. Am wütendsten war sie jedoch über die Hilflosigkeit und die Naivität, die die ganze Stadt, ja wahrscheinlich ganz Aranien erfasst hatte.

Seit Borbarad in Aranien eingefallen war, hatte sich so viel in ihren Leben verändert. Gewiss, oberflächlich war vieles gleich geblieben, doch im Inneren hatte ihr Land sich zu verändern begonnen. Langsam aber stetig, jedoch noch nicht zu dem Punkt, an dem man die schlechten Stellen hätte entfernen können. Und es war doch auch noch viel Gutes geblieben, oder?

Sie hatte davon gehört, dass es am Dornenwall eine Schlacht gegeben haben soll; dass der Sha von Zorgan die oronischen Truppen geschlagen und auf dem Weg nach Narhuabad sein sollte. Die Präsenz von Söldlingsvolk und Rotmänteln war seit Tagen im Fluss und es gab viel Bewegung unter den bewaffneten Herrn des Landes.

Dann war alles vor etwas mehr als drei Tagen über sie hereingebrochen. Yarim hatte sie im Vorfeld sich verstecken geheißen. Sie sollten in ihren Häusern bleiben. Der alte Yarim al Kaldarim war der Älteste der Stadt und sie, ihre Eltern und Freunde hatten wie so viele seinem Urteil vertraut. Er unterhielt die Kontakte zu den Herren von Oron und war trotz oder gerade wegen seines Alters ein faszinierender Mann. Malrira hatte oftmals – eigentlich ständig – den Feiern und gesellschaftlichen Ereignissen in seinem Hause beigewohnt. Doch auch diese glücklichen Zeiten waren vorbei. Yarim war tot. Erschlagen von den neuen Besatzern, denn nichts anderes waren sie. Sie blickte dem schwarzen Ritter mit dem roten Umhang und roten Helmschweif nach. Sie sind keinen Deut anders als diejenigen, die sie vertrieben haben. Im Grunde sogar schlimmer.

Als sie vor knapp vier Tagen angekommen waren hatten die Mittelreicher erst die Kelterei gestürmt und in einem blutigen Gefecht eingenommen. Malrira hatte die Schreie gehört, die Flammen und den Rauch vom Fenster ihres Elternhauses gesehen.

Danach hatten sie die Stadt angegriffen. Malrira und ihre Familie hatten sich wie geheißen versteckt gehalten doch der Lärm und das Töten waren in der ganzen Stadt zu hören gewesen. Als die Nacht hereingebrochen war, hatten die mittelreichischen Soldaten zusammen mit einigen Kämpfern aus dem freien Aranien Nahruabad eingenommen. Freie Aranier. Kämpfer des Sha. Nichts weiter als Marionetten der goldenen Herrscherin in Gareth waren sie. Hunde, die dem mittelreichischen Heerführer hinterherlaufen wie ein Clan Hyänen den jagenden Löwen.

Es hatte einen hohen Blutzoll gegeben. Unter den Bewaffneten aber auch unter den Bürgern der Stadt.

Yasminas Mann war während der Kämpfe ums Leben gekommen, als er die Ziegen seines Schwiegervaters hatte ins Haus retten wollen. Seine Frau und sein kleiner Sohn hatten vom Fenster alles mitangesehen. Keiner von beiden hatte seitdem ein einziges Wort mehr gesprochen.

Insgesamt zählte diese blutige Nacht mehr als 350 Tote. Boron macht keinen Unterschied zwischen Schuldigen und Unschuldigen.

Malrira nahm die Eimer wieder auf. Sie überlegte kurz, ob sie nochmals zurückgehen sollte, um sie erneut vollzufüllen, entschied sich dann aber trotzig dagegen. Sie entstammte einer stolzen Familie; einem stolzen Volk. Ihr Name war alt, wie ihr ihre Großmutter immer erzählt hatte. So alt wie das diamantene Sultanat selbst. Diese Fremdländer kamen hierher in ihr Land und benahmen sich, als wäre alles dort von Rechts wegen ihres. Es war noch nicht lange her, da hatte sich die Großvisierin und Mutter des heutigen Shas vom Reiche Rauls des Eroberers losgesagt und die so lange ersehnte Unabhängigkeit erstritten. Und nun zog ihr Sohn all dies wieder in den Schmutz, indem er im Gefolge des Garether Prinzen und dessen Kriegstreiber in ihre Stadt kam; trat die Würde und den Stolz der Aranier mit Füßen zurück in den Staub der Mittagshitze. Gewiss nicht alles war gut, unter der Herrschaft der Rotmäntel. Menschen waren verschwunden und nie wieder gesehen worden. Man litt unter stetig steigenden Abgaben. Aber es war Friede gewesen.

Die Fremdländer brachten nichts als Krieg und Elend. Verflucht sollen sie sein! Dieser Throndwig und seine Schergen.

Als sie sich in Richtung Badehaus in Bewegung setzte hielt sie noch einmal kurz inne um sich zu sammeln. Eine seltsame Idee huschte durch ihren Geist. Doch sie schüttelte sie ab und machte ihren Weg weiter in Richtung der Therme.

 

II.

Das Badehaus war spätestens seit der Ankunft des Mittelreicher ständig überfüllt. Es hatte sich herausgestellt, dass Nahruabad allein von so etwas wie einer Vorhut eingenommen worden war. Das Hauptheer war zwei Tage später eingetroffen. Marira hatte noch niemals so viele Bewaffnete und gepanzerte Pferde gesehen. Die Mittelländer sahen für sie alle gleich aus, doch unter den Araniern waren sehr viele Stämme vertreten. Barburen und Nebachoten ritten gleichermaßen Seite an Seite im Tross des Heerführers Throndwig, von dem alle sprachen, als sei er Ucuri selbst. Je nachdem, wem man glaubte, hatte er mit weniger als 100 Streitern oder aber auch im Alleingang den Dornenwall erklommen und das oronische Heer in die Flucht geschlagen. Sie hatte ihn bislang nur einmal von Weitem gesehen und da er sich immer mit einem Hofstaat an Beratern umgab, hatte sie von dem Mann im Grunde nichts erkennen können.

Malrira trug unter Erduldung der plumpen und widerlichen Zurufe der Soldaten ihre Eimer durch den Seiteneingang ins Innere der Therme. Sie schüttelte die Schmähungen innerlich ab.

In den Gängen war es merklich kühler und Malrira wischte sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht, bevor sie die Eimer in den Kesselraum brachte, wo das Wasser für die Badezuber erhitzt wurde. Dort wartete Rashpatana bereits ungeduldig. Der große Kessel, der fast den gesamten Raum ausfüllte musste derzeit immer möglichst voll sein, um den steten Andrang an Badegästen stets mit warmem Wasser zu versorgen. Rashpatana blickte ärgerlich drein, da Malrira verspätet zum Kesselhaus zurückgekehrt war, doch als sie sie einen Augenblick länger gemustert hatte, wurden ihre Züge weicher und Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit, als sie fragte:

«Kind, was ist mit Dir geschehen? Du siehst aus, als hättest Du ein Staubbad mit den Ferkinaponys genommen.»

Sie begutachtete Malrira von oben bis unten und stand auf um zu ihr zu eilen. Das Gewand der jungen Frau war voll von Straßenstaub. Ihre schwarzen Haare waren in okkergelb gepudert. Ihr hübsches Gesicht verschmiert von Schweiß und feinstem Sand, gerötet und die Brauen kaum noch zu erkennen.

«Es ist alles in Ordnung, Rashpa.» antwortete Malrira und brachte ihre Eimer zum Kessel. Als sie den ersten eingefüllt hatte, trat die ältere Frau an ihre Seite. Sie war deutlich fülliger als Malrira und roch nach Lavendel und Seife. Malrira liebte diesen Geruch. Sie war immer gerne hierhergekommen und mochte Rahpatana sehr gut leiden.

«Lass gut sein.» sagte sie. «Es ist alles in Ordnung».

«Haben sie Dich angefasst? Kind, hat Dich jemand…»

«Nein.» fiel ihr die Jüngere abrupt ins Wort. Leise fuhr sie fort: «Nein, mich hat niemand angefasst. Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie anfangen, sich an uns zu vergreifen. Sie behandeln und jetzt schon wir Huren. Denken ein Badehaus sei ein Bordell. Diese Ignoranten. Barbaren. Die meisten von ihnen haben doch bis vor einer Woche noch nicht einmal gewusst, was ein aranisches Badehaus ist, geschweige denn eines gesehen. Sie kommen hierher in unser Land und nehmen sich, was sie wollen. Unsere Städte, unsere Ernte, unser Wasser, unsere Kultur. Da ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auch uns nehmen.»

«Kind», begann Rashpatana, »hast Du vergessen, wer in diesem Land bis vor kurzem regierte? Dies hier war nicht mehr Aranien. Es war ein Zerrbild dessen, was wir Heimat und Kultur nennen.»

«Aber es war sicher. Die letzten Tage sind in Nahruaband mehr Menschen gestorben als während der ganzen Zeit unter der Herrschaft von Emira Iphemia…»

«Malrira!» fiel ihr die Ältere ins Wort, «hörst Du Dich überhaupt reden Kind?« Wie viele Menschen hat die Emira nach Keshal Taref verbringen lassen?»

«Die meisten gingen freiwillig. Würde Yarim noch leben, so könntest Du ihn fragen. Er wusste es. Hat es mir selbst bestätigt.»

«Yarmin war nicht der, zu dem Du ihn machst Malrira. Er war das Frettchen, das der Morghuli und ihren Leuten berichtete und…»

«Pssst!» machte Malria. «Nicht so laut.»

Derlei durfte man nicht einmal denken. Geschweige denn äußern.

»Es ist vorbei, Malrira.», sagte Raschpatana sanft und legte ihren Arm um die junge Frau.

Bilder schossen in Malrira auf. Von Yarim. Von den Festen, die in seinem Anwesen gefeiert wurden. Seltsame Bilder. Verstörend. Bilder von ihr, als stehe sie neben sich. Dinge geschahen. Dinge, die man nicht beschreiben konnte. Nicht beschreiben wollte. Ihr schwindelte.

»Ich brauche frische Luft.» stammelte sie, riss sich fast von der Kesselfrau los und stürmte schwankend nach draußen.

 

III.

Am späten Nachmittag fand sich Malrira erneut im Badehaus wieder. Ihre Kopfschmerzen waren zu einem dumpfen Pochen geschrumpft, lauerten aber in den Winkeln ihres Schädels, bereit hervorzuschnellen, sobald sich die leiseste Gelegenheit ergeben würde.

Die Therme war seltsam ruhig zu dieser Zeit.

Die große Beisetzung, erinnerte sich Malrira. Heute zur sechsten Stunde sollten die Toten beigesetzt werden. Malrira war sich nicht sicher, wie das geschehen sollte. Während den letzten Tagen hatte sie mitbekommen, dass einige von den Fremdländern bei den Familien der Opfer gewesen und persönliche Fragen gestellt hatten. Wahrscheinlich hatte man versucht, ihnen Tätigkeit für die oronischen Herrscher nachzuweisen, um ihnen ein ordentliches Begräbnis versagen zu können. Wie unglaublich pietät- und rückgratlos. Wenn sie nur ihre Soldaten beerdigen wollten, sollten sie das einfach tun, irgendwo fernab der Stadt. Sie würden sich selbst um ihre Toten kümmern. Sie brauchten keine Hilfe von diesen Barbaren.

Diese selbsternannten Entscheider. Nun bestimmten sie nicht nur über ihr aller Leben, sondern auch noch darüber hinaus.

Malrira ging zum Kesselraum. Er war zum Glück leer. Sie hatte gerade keine Lust, Raschpa über den Weg zu laufen.

Sie füllte zwei Eimer mit warmem Wasser und trug sie in die ‘Sultanskammer‘, den einzigen Raum, in welchem nur ein Badezuber stand. Dies war früher der teuerste und beliebteste Raum in der Therme gewesen. Aber bezahlt wurde hier schon seit der Ankunft der Mittelländer nicht mehr. Man nahm sich, was man gerade brauchte. Ohne zu fragen. Ohne zu zahlen.

Zu Malriras Missfallen war der ‘Gast’ bereits eingetroffen. Sie erkannte dies an den sanften Bewegungen des Seidenvorhangs, welcher die ‘Sultanskammer‘ von dem davorliegenden Gang trennte.

Sie mochte den Dienst hier nicht. Denn hierher kamen nur die Offiziere der kaiserlichen Armee und einige Tauscha und andere Befehlshaber der Westaranier. Sie mochte sie alle nicht. Die allermeisten waren entweder barsch oder zudringlich.

Malrira sammelte sich und trat leise in den Raum. Vielleicht würde man sie erst bemerken, wenn sie die Eimer ausleerte und dann wäre sie schnell wieder hinausgeschlüpft, ehe man sie zu fassen bekäme.

Sie hielt den Kopf leicht gesenkt, blickte aber dennoch nach oben, um nicht Gefahr zu laufen, überrascht zu werden.

Der Mann in der Kammer schien sie nicht bemerkt zu haben. Er stand mit dem Rücken zu ihr und begutachtete irgendetwas das er in den Händen hielt, für Malrira aber nicht zu sehen war. Er war ein Mittelreicher, soviel stand fest; und er stand noch in Gänze angekleidet vor ihr. Dunkle Stiefel, eine Hose aus schwarzem Leder, wahrscheinlich Steppenrind oder irgendetwas ähnliches, was die Mittelländer sich hielten. Eine ebenfalls lederne Rüstung bedeckte seinen Oberkörper. Dies war jedoch kein Material das sie kannte. Es hatte eine seltsame grün-blaue Färbung, die allerdings natürlich, also nicht nachträglich eingefärbt zu sein schien. Echsenwerk. Auf dem Rücken trug er zwei grässlich anzusehende Schwerter. Die Klingen selbst steckten in metallenen Scheiden, aber die Griffe mündeten in dämonischen Fratzen, die bedrohlich in ihre Richtung zu starren schienen. Sei vorsichtig, Malrira. Dieser Mann ist gefährlich. Ihr Kopfschmerz kehrte schlagartig zurück. Als sie den Weg zum großen Badezuber halb geschafft hatte, sprach der Mann in leisem und beiläufigem Ton wie mit sich selbst. «Bring noch einen Becher mit Kaffee, wenn Du das nächste Mal kommst.»

Malrira zuckte kurz zusammen. Sie hatte sich unbemerkt geglaubt. Die Stimme des Mannes war weder besonders dunkel noch besonders hell. Sie meine fast einen leicht belustigten Unterton herausgehört zu haben und blickte auf. Der Mann stand ihr immer noch leicht abgewandt. Sein Haar war zurückgelegt, fiel ihm aber vorne in Strähnen ins Gesicht. Er musste vielleicht Ende zwanzig sein. In den Händen hielt er einige Bögen Papier, welche mit türkisblauer Tinte beschrieben waren. Sein Profil war schön anzusehen, wenngleich seine Züge angespannter waren, als seine Stimme und seine Körperhaltung vermuten ließ.

Malrira goss die beiden Eimer in den bereits gut gefüllten Zuber – wer auch immer diesen soweit vorbereitet hatte – und verließ den Raum mit einem leisen «Sehr wohl, Herr».

Sie ging in den Küchenbereich und nahm einen Zinnbecher ohne Henkel aus dem Regal. Soll er sich doch die Finger verbrennen. Sie füllte diesen mit dem stets vorbereiteten Minztee und gab etwas heißes Wasser hinzu. Dann gab sie drei große Löffel Honig hinein, um den Tee so süß wie möglich zu machen. Die Mittelländer kannten nur vergorenen Getreidesaft oder abgestandenes Wasser. Die Süße würde dem Fremden das Gesicht verziehen, stellte sich Malrira vor und musste unwillkürlich grinsen.

Den Becher stellte sie auf ein Tablett, holte noch einen letzten Eimer Wasser und ging zurück zur ‘Sultanskammer‘. Ihr Kopfschmerz war schon viel besser.

An ihrem Ziel angekommen war Malrira überrascht, den Raum bereits in einem leichten, duftenden Nebel vorzufinden.

Der Mittelländer hatte doch tatsächlich den kleinen Ofen mit den erhitzten Steinen entdeckt und sogar gewusst, wofür dieser zu benutzen war. Es roch nach Wasserlilie, aber auch noch nach etwas anderem, das Malrira nicht kannte und das nicht im Sortiment in der kleinen Kommode neben dem Ofen vorzufinden war.

Der Mann war mittlerweile vollständig entkleidet und verstaute gerade die Papierbögen in einer hölzernen Rolle. Er griff nach einem länglichen, vollständig in Leder eingeschlagenen Gegenstand und legte diesen auf den Schemel, den er auf den Tisch neben dem Zuber gestellt hatte.

Er war drahtig, fast schon athletisch gebaut, doch sein Körper war an etlichen Stellen von kleineren und größeren Narben gezeichnet. Kriegsvolk. Für einen Mittelreicher ungewöhnlich ungeniert und auch in keinster Art und Weise beeindruckt von ihrer Anwesenheit stieg er in den Bottich mit heißem Wasser und schloss kurz die Augen. Dann drehte er sich zu ihr um und musterte sie von Kopf bis Fuß. Ein leichtes Lächeln trat auf seine Lippen und sie wusste, dass er Gefallen an ihr gefunden hatte. Oh, sie waren doch alle so berechenbar. Aber wenn es heute geschehen sollte, hätte sie es auch schlimmer treffen können.

«Kaffee ist wohl leider aus?» fragte er nach einer kleinen Weile, die sie in der Tür gestanden hatte. «Aber gut, Minztee ist auch recht.» Er schien die leichte Verwunderung in ihrem Gesicht lesen zu können und lächelte erneut.

«Nun komm. Oder soll ich nochmal heraussteigen um mir den Tee zu holen?»

Malrira setzte sich etwas unsicher in Bewegung. Er sprach in beiläufigem Tonfall aber sie hatte gelernt, derlei Äußerlichkeiten nicht zu trauen. Er konnte trotz des Geruchs des Duftöls im Raum erkennen, dass in dem Becher kein Kaffee, sondern Minztee war.

Am Zuber angekommen hielt sie ihm das Tablett hin, sodass er den Becher nehmen konnte. Stattdessen ergriff er das ganze Tablett und nahm es ihr aus den Händen. Er roch an dem Tee, ergriff den Becher dann am obersten Rand und schlürfte einen ersten kleinen Schuck ab. Er verzog leicht das Gesicht aber nicht derart stark, wie sie es sich in ihrer schelmischen Fantasie vorgestellt hatte.

«Ein wenig süßer, als man ihn in Zorgan zu trinken pflegt, aber kein schlechter Ersatz für einen guten Kaffee.»

Er gab ihr das Tablett als Ganzes zurück.

«Setz dich.» sagte er zu ihr.

«Herr, ich habe noch vieles zu erledigen und die Kesselfrau wird mir zürnen, wenn ich bei meinen Aufgaben tändele.»

«Die Kesselfrau habe ich nach Hause geschickt.» gab er zurück. «Sie hat dort genug zu tun, bei allem was ich weiß.»

Was weißt du schon?

Sie zog sich einen kleinen hölzernen Schemel heran und setzte sich. Ihre Kopfschmerzen ergriffen die günstige Gelegenheit, um schleichend die Rückkehr anzutreten. Sie sah sich im Raum um und schätzte ihre Chancen ab schnell nach draußen zu gelangen, sollte sie einen Fluchtversuch wagen müssen.

Ihr Blick fiel auf die kleine Garderobe an der Eingangstür. Dort hing, sorgsam aufgebügelt, eine graue Robe. Der Stoff erinnerte am ehesten an Al’Anfanischer Seide. Ihre Mutter war Schneiderin und so waren ihr Stoffe von klein an geläufig. Dennoch kannte sie dieses spezielle Material nicht. Dennoch war ihr klar, dass es unglaublich kostbar sein musste. Dieses Gewand mochte gut und gerne mehr kosten, als ein Handwerker in Jahren mühevoller Arbeit verdiente. Es hatte eine große Kapuze und eingelassene Webarbeiten in Türkis und Silber oder gar Mondsilber, wenn man es genauer betrachtete. Die wenigen Zeichen und Symbole allerdings, die auf der Vorderseite sichtbar waren, sagten ihr nichts; dennoch bereiteten sie ihr ein gewisses Unbehagen und wenn man das Kleidungsstück länger betrachtete und hierbei zu schnell mit den Augen darüber flog, hatte man das Gefühl als würde der Stoff zu fließen beginnen. Eine leichte Übelkeit stieg in ihr auf und sie wandte sich rasch ab. War er ein Magier? Nein. Die Waffen. Die Rüstung. Die Narben. Er sah zu sehr nach Kriegsvolk aus. Dies ließ nur einen Schluss zu: Kriegsbeute. Fremdes, geraubtes Eigentum.

«Es war ein langer und anstrengender Tag. Eine Massage würde meine Beschwerden sicherlich lindern.» begann er erneut im Plauderton. Er hatte die Augen bereits wieder geschlossen und genoss offenbar die Wärme des Bades. Seine Züge entspannten sich sichtlich.

«Ich bin für das Wasser hier verantwortlich. Nicht für alles, was darin herumschwimmt.» Die Antwort war ihr so plötzlich von den Lippen entsprungen, dass sie selbst erschrak, als sie ihre Worte laut ausgesprochen hörte. Hastig fügte sie noch ein «Herr» hinzu.

Der Mittelreicher zog leicht die Augenbraue nach oben. Fast glaubte sie schon, den Bogen damit überspannt zu haben, als er sich lächelnd noch ein Stückchen weiter in Wasser hineingleiten ließ, sodass nur noch sein Kopf zu sehen war.

«Nun gut sagte er. Es war einen Versuch wert. Wie heißt du eigentlich?»

Malrira war bestärkt dadurch, dass er ihr ihre aufsässige Antwort hatte durchgehen lassen.

«Was für einen Unterschied macht es, wenn Ihr meinen Namen kennt?»

«Nun, zumindest könnte ich aufhören, dich immer nur mit «Du» oder «Frau die hier nur für das Wasser verantwortlich ist» oder etwas Ähnlichem anzusprechen.

«Ich heiße Malrira.» sagte sie nach kurzem Zögern. Er schien zu überlegen, ob er hierauf etwas sagen sollte, überlegte es sich aber anscheinend anders.

«Wie alt bist du, Malrira?» fragte er stattdessen.

«Siebzehn.» log sie.

«Siebzehn.» wiederholte er langsam. «Und wie viele Jahre davon hast Du in der Praiosschule verbracht?»

«Keines. Mein Vater hat mich Lesen, Schreiben und die Al’Ghebra gelehrt.» antwortete sie.

«Hm.» Er schwieg eine ganze Weile. Gerade als sie dachte, er sei eingeschlafen und sie könne sich entfernen fragte er unvermittelt: «Weißt Du, woher Dein Name stammt, Malrira?»

«Es ist ein sehr alter Name.» antwortete sie. «Er stammt aus der Zeit des diamantenen Sultanats.» Einer Zeit, in der die Lande der ersten Sonne noch groß gewesen waren; eine Zeit, in welcher Deine Vorfahren gerade begonnen hatten, aus ihren Höhlen zu kriechen; in der die Söhne und Töchter Bastrabuns die Welt beherrschten. Einer lange vergangenen Zeit, die wiedererstehen konnte, wie Yarim al Kadarim prophezeit hatte. Eine neue, alte Zeit, in der die Morghuli von Elburum wieder über alles Land zwischen Perricum und Alt-Elem herrschen würde.

«Das ist wahr.» sagte er und riss Malrira aus ihren Gedanken.

«Aber es ist nur ein Teil der Wahrheit. Wenn man den alten Aufzeichnungen glauben kann, war Malrira eine blühende Metropole im heutigen Thalusien. Sie mag so groß wie Kunchom heute gewesen sein, vielleicht sogar noch größer. Aber während den dunklen Zeiten verschwindet sie aus dem Gedächtnis der Welt. Nur sehr Weniges erinnert heute noch an die einstmalige Perle am Thalusim. Unter anderem Namen wie deiner.»

«Ihr seid ein Gelehrter und Historiker?» fragte sie ihn mit einem leicht sarkastischen Unterton in der Stimme, der eine gewisse Neugierde jedoch nicht verbergen konnte.

«Eher ein weit Gereister, würde ich sagen.» antwortete er. «Mehr als das, was ich dir gerade gesagt habe kann ich auch nicht berichten.» Er drehte ihr den Kopf zu und blickte ihr unverwandt in die Augen.

«Es ist ein schöner Name, der für viel Licht, Schönheit und Hoffnung steht. Aber es schwingt ein dunkler Nachhall tief in ihm und ein trauriges und tragisches Schicksal ist mit ihm verknüpft.»

Malrira schluckte schwer. Mit einem Mal, waren die Kopfschmerzen mit unvermittelter Härte zurückgekehrt und sie fühlte, wie ihr ein kalter Tropfen Schweiß am Rückgrat entlang nach unten lief. Sie konnte dem Blick des Fremden nicht länger standhalten und sah zur Seite.

«Hast Du schon Kinder, Malrira?»

Die Frage versetzte Malrira einen Stich. Sie wusste nicht einmal wieso, aber die Frage tat weh. Doch sie riss sie auch aus dem Bann, den er scheinbar über sie geworfen zu haben schien. Wut wallte in ihr auf und ließ die glühenden Nadeln in ihrem Kopf zu hartem Stahl erkalten.

«Jetzt kommen wir also zum Punkt?» fragte sie zornig.

«Zum Punkt?» fragte er scheinbar verwundert.

«Ja.» antwortete sie. «Was bezweckt ihr mit einer solchen Frage. Wollt ihr wissen, ob ich noch unberührt bin, ist es das? Ob man sich an mir irgendwelche Krankheiten holt, wenn man mich zu sich ins Wasser zerrt?»

Bevor sie Luft holen und sich weiter in Rage reden konnte unterbrach er sie schnell:

«Malrira, bitte, was denkst Du? Behandelt man Dich hier derart schlecht, dass dies das erste ist, was dir in den Sinn kommt, wenn Dich jemand nach Kindern fragt?»

Er lächelte ein entwaffnendes Lächeln. «Und überhaupt. Wer schütz mich davor, dass Du nicht einfach zu mir in den Zuber hüpfst? Du musst zugeben, ich bin in der weit exponierteren Position als du. Nackt hier in deinem Badehaus bis zum Hals im Wasser liegend.»

Malriras Zorn war so plötzlich verraucht, wie er aufgekommen war. Zwar empfand sie die Antwort als weniger gewitzt und geistreich als der Mittelreicher sie vielleicht einschätzte. Trotzdem hatte sein süffisantes Lächeln sein Ziel erreicht.

«Wieviel nehmt ihr eigentlich für den Zuber?» wechselte er schnell das Thema.

Die Frage überraschte sie.

«Hier in der «Sultanskammer» haben wir immer drei Zechinen verlangt.»

«Und das wird gerechnet pro Zuber oder auch noch pro Sanduhr?»

«Bevor ihr kamt wurde pro frischer Zuber für zwei große Sanduhren berechnet. Jede angefangene weitere große Sanduhr kosteten zwei Muwlat. Noch früher hat man nur einen Festpreis pro frischem Zuber verlangt. Ein Aufguss immer inklusive. Die zeitliche Beschränkung wurde notwendig, weil ganz früher viele fahrende Händler die Therme nutzten. Sie hatten wenig Zeit, weil sie immer sehr geschäftig waren. In letzter Zeit hat diese Betriebsamkeit jedoch etwas nachgelassen und diejenigen, die sich die «Sultanskammer» leisten konnten verbrachten dort sehr viel Zeit, was zu Unmut führte, da lange Wartezeiten entstanden. Aber ich will euch nicht mit derlei Krämergeschwätz langweilen. Dies ist sicherlich nicht euer Metier.»

«Tatsächlich behaupten manche, dies sei der Fall, während andere wiederum es vehement abstreiten würden. Aber Du langweilst mich nicht. Im Gegenteil. Und beschweren dürfte ich mich ohnehin nicht. Schließlich habe ich ja gefragt. In Zorgan nehmen sie heutzutage übrigens acht Zechinen für eine Kammer wie diese. Allerdings hat man drei große Sanduhren Zeit, wobei jede weitere fünf Muwlad kostet. Die Preise sind dort innerhalb der letzten zwei Jahre fast um ein Drittel gestiegen.»

«Ihr seid weit herumgekommen scheint es?» fragte sie nachdem es nun an ihr war, ihn eine kleine Weile zu mustern. «Also für einen für einen Mittelreicher.»

Er lächelte. «Wie kommt ihr darauf? Nur weil ich die Preise für Badehäuser in Zorgan kenne?»

«Weil ihr die Preiseentwicklung für Badehäuser in Zorgan über die letzten zwei Jahre hinweg kennt. Was mir sagt, dass ihr zumindest kürzlich, wie auch bereits vor einiger Zeit dort gewesen sein müsst.»

«Ich habe ein Haus dort.»

Sie verzog ungläubig die Mundwinkel, ließ sich aber ansonsten nicht aus dem Tritt bringen.

«Natürlich habt ihr das. Ihr seid ein Angeber. Aber zugegeben, ihr wisst wenigstens, was die Herem – die heißen Steine – sind und wofür und wie sie benutzt werden. Ihr habt ein Gefühl für die Dosierung von Aufgüssen und ihr wisst, dass man in Aranien, anders als etwa in den südlichen Tulamidenlanden, keinen Pestemal trägt. Und ihr bringt gesüßten Tee mit weniger verzogenem Gesicht hinunter als die meisten Mittelländer.»

Er tauchte einmal komplett ins Wasser ein. Als sein Kopf gleich darauf wieder hervorspross, strich er sich das Haar zurück, öffnete die Augen und zeigte erneut dieses entwaffnende Lächeln.

«Was soll ich sagen? Du hast mich ertappt.»

Sie lächelte ebenfalls, als sie fragte: «Führt euer Reich in so vielen Ländern Krieg? Oder wieso seid ihr so weit gereist?»

Sein Lächeln erstarb recht plötzlich und seine Miene wurde ernster. «Ja. Mein Reich führt an mehr Orten Krieg, als du dir vorstellen kannst.»

Sie hatte gewusst, dass das Greifenreich überall Krieg führte, wo es meinte, sein Gebiet erweitern zu können. Aber dass er es derart dreist zugibt.

«Hast du jemanden verloren bei den Kämpfen?» frage er vorsichtig.

Ohja, das hatte sie. Aber das würde sie ihm nicht erzählen.

«Ich hatte Glück. Meine Familie hat keinen Todesfall zu beklagen. Aber das heißt nicht, dass wir nicht trauern wegen dem, was vorgefallen ist.»

«Nein. Das heißt es sicher nicht.»

«Bedauert ihr manchmal, was ihr tut?» fragte sie fordernd.

Er schien eine Weile zu überlegen, bevor er antwortete. «Ja.» antwortete er sodann langsam. «Tatsächlich bedaure ich das Ergebnis mancher meiner Taten. Wann immer man versucht, ein aus eigener Sicht richtiges Ziel durchzusetzen, begegnet man Menschen, die andere, manchmal auch gegensätzliche Ziele verfolgen. Kann man diese nicht durch Verhandlung lösen, bedaure ich bisweilen den Fortgang der Ereignisse.»

Bisweilen.

Seine Stimme war weiterhin ernst, als er fortfuhr. «Aber wenn man ein großes Ziel vor Augen hat, dann muss man es verfolgen. Man darf hierfür sicherlich nicht alle Mittel einsetzen. Man braucht Regeln, die man sich selbst, die Welt und die Götter einem geben. Aber dann darf man nicht zaudern. Man muss versuchen, dorthin zu gelangen; und muss mit den Konsequenzen leben. Im Guten wie im Schlechten.»

Welch wohl gesprochene Rechtfertigung, Länder mit Krieg und Tod zu überziehen.

«Ich verstehe nur wenig von solchen Dingen.» sagte sie und stand auf. «Wenn ihr mich nun entschuldigen würdet. Ich habe mich noch andere Zuber zu kümmern.

«Aber nicht um das, was in ihnen herumschwimmt.» vervollständigte er ihren Satz mit einem süffisanten Lächeln. Sie lächelte nicht zurück und drehte sich zum Gehen. Obwohl der Punkt an ihn ging.

«Malrira.»

Sie drehte sich noch einmal um.

«Bitte komm noch einmal her. Du hast etwas vergessen.»

Malrira versteifte sich. Etwas in seiner Stimme ließ ihren Magen verkrampfen. Langsam drehte sie sich um und ging zu dem Zuber zurück.

Lauf, Malrira. Dies wird kein gutes Ende für dich nehmen!

Er drehte sich leicht zu ihr und seine linke Hand kam aus dem Wasser empor. Er hatte sie zur Faust geschlossen und streckte sie ihr leicht entgegen, aber nicht soweit, dass sie nicht direkt an den Zuber herantreten musste.

Zögernd, fast schon widerwillig griff sie nach vorne und hielt ihre Hand unter seine.

Drei Münzen fielen hinein und glänzten silbern feucht in ihrer Handfläche.

«Länger werde ich nicht brauchen. Hab Dank für Deine Gesellschaft.»

Er umfasste ihre Finger und schloss sie um die Münzen. Und im Moment seiner Berührung durchfuhr sie ein Gefühl plötzlichen Fallens. Es war, wie wenn man von großer Höhe nach unten blickte. Ihr schwindelte und fast hätten ihre Knie nachgegeben. Ohnmacht drohte sie zu übermannen. Jemand, nein etwas schrie in ihrem Geist auf. Schrill, mehrstimmig. Irgendwie vertraut und doch unsagbar fremd, falsch und furchteiflößend bis ins Innerste.

Es war nur ein kurzer Moment; dann ließ er ihre Hand los. Das Gefühl unmittelbarer Ohnmacht verflog so schnell wie Nebel in der Morgensonne. Malrira war wieder Herrin ihrer Sinne. Sie drehte sich hölzern um und verließ in schnellem, stolpernden Gang die «Sultanskammer».

 

IV.

Der große Boronsanger war außerhalb der Stadt angelegt worden. So viele Tote wären auf der bereits existenten letzten Ruhesädte von Nahuabad nicht beizusetzen gewesen.

Die Zahl der zu Begrabenden war in den letzten Tagen noch einmal gestiegen. Insgesamt lagen 452 in weißes Leinen gewickelte und auf behelfsmäßigen Tragen aufgebarte Leiber aufgereiht in Dutzende Reihen schweigender Zeugen eines brutalen Gewaltausbruchs, wie es die Stadt seit Jahrhunderten nicht gesehen hatte. Der Schrei derer, die unschuldig hier lagen war das Schweigen, das trotz der mittlerweile hunderten Besucher des Boronangers herrschte. Kein Wort wurde gesprochen. Das einzige Geräusch war das des Windes, der sacht durch die so voller Leben stehenden Felder rund um die Stadt wehte und die leisen Schritte weiter hunderter Besucher, die zum Gedenkplatz vor der Stadt strömten; zu einem stetig wachsenden Heer an Trauernden. Es kamen Mütter, die ihre Kinder verloren hatten; die Gesichter angeschwollen von den vielen Tränen, die vergossen worden waren. Es kamen Väter; die Münder in stummer Fassungslosigkeit geschlossen; Wut, Leere und Ungläubigkeit waren ihre Begleiter. Geschwister kamen, mit Augen voller Unglauben und Angst. Kameraden mit betroffenen und grimmigen Mienen und gestrafft in Körper und Geist, um den Gefallenen die Ehre zu erweisen, derer sie sich selbst sicher sein wollten, sie vielleicht einmal zu erhalten. Greise und Alte, die stumm darüber lamentierten, Kinder und Enkel zu Grabe tragen zu müssen; diese überlebt zu haben, wider den eigentlichen Gang der Welt.

Sie alle eint das Schweigen.

Neben den Betroffenen selbst waren alle Menschen Nahruabads gekommen. Alle Würdenträger der Stadt, alle Streiter der Armee des Freien Araniens, die Vertreter des Sha, die Offiziere und Streiter des Mittelreichs, die Diener des Götterfürsten in ihren goldenen Brünnen und auch der Heerführer des Kaiserreichs, der dies alles zu verantworten hatte.

Im Guten, wie im Bösen.

Malrira sah den Mann nun zum ersten Mal aus der Nähe. Diesen Throndwig. Den «Dunklen«, wie sie ihn nennen. Der «Schlächter» träfe es eher.

Throndwig von Ochsenwasser war umgeben von seinen wahrscheinlich wichtigsten Getreuen. Speichelleckern.

Er war groß, wie man das von einem Mittelreicher erwarten konnte. Gekleidet wie ein Krieger in Kette aber nicht schwer bewaffnet. Wobei sich das nicht genau sagen ließ, bei dem weiten, nachtblauen Umhang den er trug. Sein Gesicht war unansehnlich, dem Grunde nach hässlich. Eine breite Narbe zog sich schräg darüber. Der Hieb, denn ein solcher musste es gewesen sein, hatte anscheinend das rechte Auge miterfasst. Warum sonst sollte der Mann eine Augenklappe tragen? Sein Haar war bereits im Begriff vollständig zu ergrauen. Dennoch stand er aufrecht und wenn sein Alter vielleicht auch schon fortgeschrittener sein mochte, so hatte es ihm keine erkennbare Last auf die Schultern gelegt, wie dies bei vielen anderen Männern der Fall zu sein schien.

Direkt neben ihm erkannte sie auch den Riesen, der sie heute Vormittag fast zu Tode geritten hatte. Er trug noch das gleiche Rüstzeug wie am Morgen, schwarze Kette und Platte, roter Umhang, den Helm nun aus geheucheltem Anstand unter dem Arm tragend. Doch allein die beiden gigantischen Schwerter, die er an der Seite trug, straften seine aufgesetzte Trauermiene Lügen.

Mordwerkzeuge sondersgleichen. War hiermit Yarim umgebracht worden?

Irgendetwas in ihr begehrte nochmals auf.

Sie hasste diese Mittelländer und alles wofür sie standen. Sie tat sich schwer, es rational zu begründen, doch das Gefühl war da. Und es linderte ihren immer noch pochenden Kopfschmerz wie eine warme Hand im Nacken, die eine böse Verspannung löste.

Zunehmende Bewegung in dem Halbkreis der Versammelten lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine sich bildende Gasse. Von ihrer leicht erhöhten Position etwas abseits auf einer der kleinen Anhöhen der rollenden Hügellandschaft rund um Nahruabad hatte sie einen recht guten Überblick.

Ein schlichtes Rednerpult war vor die erste Reihe der Aufgebahrten gestellt worden. In diese Richtung bewegten sich nun mehrere Gestalten durch den See an Trauernden, welche wie Wasser vor dem Kiel eines Bootes zurückwichen, nur um sich unmittelbar hinter ihnen wieder zu einer einzigen Masse zu vereinen.

Malrira war erstaunt und bewegt zugleich, als sie realisierte, dass nicht hunderte, sondern tausende Menschen sich am Gedenkplatz versammelt hatten, um den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Eine so große Zahl von Menschen hatte sie noch nie in ihrem Leben an einem Ort gesehen. Ein Schauder durchfuhr sie.

Die vorderste Reihe öffnete sich und heraustrat ein Mann in wallender grauer Robe, die ausladende Kapuze tief in Gesicht gezogen, sodass seine Züge nicht erkennbar waren. Den Kopf zu Boden gesenkt ging er langsamen, feierlichen Schrittes über den freien Platz hin zu den aufgebahrten Gestalten, die still und reglos auf ihren Bahren lagen.

Malrira stockte für einen Moment der Atem. Das Gewand des Mannes war mit türkisem Brokat bestickt und mit mondsilbernen Webereien durchzogen. Jetzt von hinten war jedoch ein Zeichen für Malrira mehr als deutlich zu erkennen. Es war das gleiche, welches der Mann auch an einer Kette um den Hals trug.

Bereits im Badehaus war ihr diese Halskette aufgefallen, an welcher ein Türkis eingefasst in einen silbernen Kreis, umgeben von einem silbernen Dreieck befestig war. Das Zeichen Phexens. Aber dies trug man in Aranien häufig, als Talisman oder Glücksbringer. Es war absolut nichts Ungewöhnliches und ihr daher nicht besonders im Gedächtnis geblieben.

Aber dieser Mann war kein Offizier oder Kriegsvolk, wie sie angenommen hatte. Er war ein Priester des Fuchsgottes, des in Aranien Höchstverehrten. Fürstin Sybia hatte ihre weltliche Herrschaft abgegeben, um ihr Leben dem Gott der Sterne und des Handels zu widmen; und selbst in Oron fand der Graue noch heimliche Verehrung. Wie passte das alles zusammen? Irgendetwas in Malrira wurde unruhig. Der Kopfschmerz kehrte zurück.

In diesem Moment hatte die Gestalt die Leichentücher erreicht. Sie hielt inne, schlug das Zeichens Boron und verbeugte sich lange und tief.

Dann drehte sie sich zu den Trauernden und trat hinter das Pult. Sie schlug die Kapuze zurück und Malrira erkannte den Mann, dem sie heute Mittag das Badewasser bereitet und mit dem sie diese lebhafte und doch verwirrende Unterhaltung geführt hatte, an deren Ende sie ein zweites Mal an diesem Tag schwindelnd und mit stechendem Kopfschmerz das Badehaus verlassen hatte.

Doch die Miene des Mannes war nun ernst. Nichts von der Lebhaftigkeit und der Süffisanz war geblieben. In seinen Augen stand die Trauer und der Schmerz über den Verlust so vieler Leben; die Würde, welche vielleicht nur einem Diener der Zwölfe in dem Moment einer großen Aufgabe innezuwohnen schien.

Das ist alles nicht echt. Heuchelei. Sie konnte ihm diese Ehrlichkeit nicht abnehmen. Er war trotz allem ein Mittelreicher. Eindringling. Verbrecher. Mörder. Sie durfte ihm nicht glauben. Es war Verrat.

Er begann, den Introitus zu sprechen. Feierlich, ernst und mit einer Festigkeit in der Stimme, die sie ihm nicht zugetraut hätte.

« Requiem aeternam dona eis, BORonus:
et lux perpetua PRAiorum luceat eis.
Te decet hymnus, RONdrae
et tibi reddetur votum in Alverania:
PHEx, exaudi orationem mundanda,
ad te omnis caro veniet.
Requiem aeternam donate eis Duodeci… »

Eine kurze Pause.

Danach begann er in ruhiger Stimme, die weiter trug, als man hätte erwarten können und die auch bis zu alldenjenigen drang, die weiter weg vom Geschehen standen:

«Wir haben uns heute hier versammelt, um Ehre zu erweisen.» Wieder eine kurze Pause.

«Ehre dem Opfermut, der Vaterlandstreue und der Trauer.»

Er blickte in das riesige Halbrund der Schweigenden.

«Und diese Drei haben hier und heute Gesichter. Ein jedes von Ihnen bekannt an diesem Ort. Es sind die Gesichter der Frauen, Männer und Kinder, die hier vor uns liegen. In Stille. Und Erwartung.» Er drehte sich zu den hunderten aufgebahrten Gestalten hinter sich. Leiser, aber nicht weniger vernehmlich für die Anwesenden sagte er, fast wie zu sich selbst:

«Sie alle sind auf einer Reise. Einer Reise über das Endlose Meer des Nichts.»

Um sodann mit kräftiger Stimme fortzufahren: «Sie sind dort, und Golgaris Schwingen tragen sie. Er trägt sie, weil sie starben; den Tod fanden vor wenigen Tagen, hier, in dieser Stadt. Doch sie starben nicht für ihre Führer…» Wieder blickte er auf und ihr schien, als würde er in diesem Moment zu den Befehlshabern des Mittelreichs blicken. Konnte dies sein? Doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte sprach er weiter «…sondern für ihre Familien, ihre Brüder und Schwestern.» Seine Stimme sank wieder, wurde leise. «Ihre Kinder.»

In festem und lautem Ton fuhr er fort: «Für das Reich des Greifen und der Sphinx und vor allem: Für die Freiheit und die Zwölfgötter Alverans.

Die Zwölfe, die unser aller Geschick lenken und leiten; und uns vereinen. Ob hier in unserem derischen Dasein; oder in den heiligen Hallen Alverans.

»Bei diesen Worten fuhr der Schmerz in Malriras Geist ein, urplötzlich und wie eine heiße Nadel. Sie zuckte zusammen und für einen kurzen Moment übermannte sie die Schwärze. Sie suchte Halt, fand jedoch keinen, taumelte einen Schritt nach vorne und glitt aus. Direkt in kalte und harte Arme. Ein seltsamer Duft begann ihren Geist zu umnebeln und doch brachte er sie zurück in Bewusstsein.

Die Stimme des Priesters drang wieder an ihre Ohren:

«… die im Namen von Opfermut und Freiheit, manchmal auch das Leben Unschuldiger fordern.

Die Wege der Götter sind unergründlich, wie es heißt. Und wahrhaft, bisweilen ist dies alles für uns Sterbliche kaum zu verstehen. Kaum zu ertragen.

Unendlich groß ist unser Bedauern heute über den Tod so vieler Unschuldiger, die ihre Leben in den Flammen ihrer Häuser oder den Straßen ihrer Heimat lassen mussten.» Erblickte sich erneut um, erst zu den Lebenden, dann zu den Toten.

«Nichts scheint uns über die Verluste und den Schmerz hinwegzuhelfen, der im Moment in unseren Herzen regiert. Und derzeit lässt sich auch nur eines festhalten: Diese Verluste waren unnötig und grausam; und spiegeln doch das Ansinnen der oronischen Herrscher wieder.»

«Lüge» wisperte etwas in ihrem Geist. Leise, kaum noch hörbar, aber immer noch dort.

Sie nahm ihre letzten Kräfte zusammen und blickte auf und sah in ein Gesicht, das wie noch keines das sie je zuvor gesehen hatte Strenge und Milde widerspiegelte. Die Welt um sie herum drohte wieder im Schmerz zu ersticken und wieder sank sie. Nur eine flüchtige Bewegung des Mannes hielt sie zurück und mit einem Mal trat Licht in die Dunkelheit. Sie nahm den weißen Überwurf über silbrig-stählerner Rüstung nun wahr und das Sonnensymbol darauf erstrahlte im hellen Gold des Götterfürsten.

«Bleib, Mädchen», sagte er mit gebieterischer Stimme «und höre die Worte des Priesters.»

«Es kann nur einen Sinn in all diesem Leid liegen: Und das ist der Weg zu Frieden und Freiheit. Und diesen müssen wir gehen. Stetig. Beharrlich. Und unbeirrt. Doch wisset und seid gemahnet: Seine Augen suchten erst den Kriegsherren und dann den Mann, der Malrira stütze.

«Groß machen Kriege niemanden, der sie um ihrer selbst willen führt. Und Ziel eines jeden Kriegers muss sein, dass sein Handwerk ruht.»

Sie sind nicht gekommen um zu morden und zu besetzen. Sie kamen mit unseren Brüdern und Schwestern. Und sie kamen für Freiheit. Für Frieden. Für Befreiung aus Tyrannei.

«Und wenn Opfermut und Vaterlandstreue ihren Soll erfüllt haben, weichen sie der Trauer. Sie ist alles, was den Menschen vorerst bleibt.

Und in stillem Angedenk aller Drei und im Namen Borons, Rondras und Praios; im Namen Phexens, Rahjas und Angroschs und dem Rest ihrer Zwölfgöttlichen Geschwister übergeben wir diese tapferen Seelen dem Willen der Götter.»

Während der Geweihte die Namen aller Gefallenen verlas und dazu erzählte, wer sie waren, was sie im Leben geliebt hatten; wen sie zurückließen und wer um sie trauerte (denn nichts anderes hatten er und seine Getreuen die letzten Tage getan, als die Menschen nach ihren Lieben zu befragen um ihnen Worte mit auf den Weg geben zu können), sank Malrira hinab in die Arme Götterfürsten.

Die Bilder und Geschehnisse der letzten Jahre flogen an ihr vorbei. Alles was sich so richtig angefühlt hatte, seit sie in Yarims Obhut gegeben ward, brach auf wie ein von innen faulender Apfel und all das Schlechte und Verdorbene ergoss sich auf dem Wasser der Worte des Priesters in das Licht des Götterfürsten. Malrira weinte und sank hinab auf den Grund ihres Wesens, bis nur noch sie und die Götter dort zugegen waren. Sie spie all den schwarzen Wein aus, und was sie mit ihm hatte trinken müssen, erbrach all das Unrecht, das ihr geschehen war, entließ all die Schmerzen und Demütigungen, die sie hatte ertragen müssen, bis nur noch ihre Hülle und ihre Seele blieb, die sie dem Urteil Alverans übergeben konnte.

Und so kauerte bis alle Namen verlesen, allen Seelen der Weg gewiesen und aller Trauer Raum gegeben ward.

«Nun höre noch einmal die Worte des Priesters, Kind.» flüsterte der Mann, der sie stützte. Und die Stimme drang an ihr Innerstes. Leise und doch kräftig und angefüllt mit Trauer und Mitgefühl: «Möge Golgari sie leiten über das Nirgendmeer und sie Einzug erhalten in die Hallen Alverans: Herr BORon, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht PRAios leuchte ihnen. Dir gebührt Lob, Herrin RONdra Dir erfüllt man Gelübde in Alveran. Herr PHEx! Erhöre mein Gebet; zu Dir kommt alles Weltliche. Alveranische Zwölfe, gebt ihnen die ewige Ruhe… Pie Marbo Domina, Dona eis Requiem.»

Wieder und wieder hallten die Worte durch ihren Geist; bis sie sich wandelnden und aus Worten für Alle Worte nur für sie wurden. Und sie geleiteten sie zurück in das Reich der Sterblichen, während all ihre Qual und Pein von ihr abfiel.

Pie Marbo vereris,
Salvatio omnia daeris.

 

 

  1. Sitzt der Richter dann zu richten,
    Wird sich das Verborgne lichten:
    Nichts kann vor der Strafe flüchten.