Der Mann betrachtete das Gesicht, welches sich in dem kristallgläsernen Fenster durchscheinend spiegelte. In ihm war nicht mehr die Jugendlichkeit zu sehen, welche zu sehen er eigentlich dort gewohnt war. Zugegeben, er war nicht alt. Aber die letzten Jahre hatten doch deutliche Spuren hinterlassen. Spuren, die jetzt in den letzen Wochen des Frühlings immer deutlicher sichtbar geworden waren.

Auf der anderen Seite des Fensters glitzerte in einiger Entfernung das Licht der aufgehenden Sonne auf den sich kräuselnden Wellen des Meers der Sieben Winde. Davor lag – wie ein riesiges Seerosenblatt – die grüne, von Wasseradern durchzogene Weite des Mündungsdeltas des Grossen Flusses. Sie lag friedlich da, die Muhrsape; getaucht in das goldene Licht der Morgensonne, das erst vor einer grossen Sanduhr die letzten Flussnebel hatte vertreiben können, welche das Land seit den frühesten Morgenstunden überzogen hatten.

Dieses Bild liess den Mann am Fenster kurz erschaudern, führte es ihm doch noch einmal für einen kurzen Moment ein Abbild dessen vor Augen, was hätte sein können.

Von unten war ein Geräusch zu hören. Mit einem letzten Blick auf die Stadt und den ihr direkt angegliederten Hafen drehte sich der Mann um; liess die Dächer der Häuser hinter sich, welche noch immer mit kühlem Morgentau überzogen waren, der vor wenigen Wochen noch Reif gewesen war.

Sie hatte nicht viel mitbekommen von den Geschehnissen der letzten Monde, die Stadt am Delta; nur wenig gesehen von dem, was das Königreich seit dem Winter in Atem gehalten hatte; kaum das Beben gespürt, welches die Grundfesten des Landes hatte erzittern lassen. Und das war auch gut so.

Denn so fuhren nun wie jeden Morgen auch die Fischer hinaus ins Delta, dem Hauptstrom entlang bis zum Meer, um Fisch zu fangen; gingen die Händler, Handwerker und Bürger gleichermassen ihren Geschäften nach; erwachte die Stadt von neuem zum Leben. So, als wäre nichts geschehen.

Der alte Mann stieg mit langsamem, aber festem Schritt die Treppen hinauf. Die Stiegen knarzten leise unter seinem feinen Schuhwerk. Ein kurzer Moment der Ruhe, in welchem er den Sitz seiner Kleidung überprüfte;  dann klopfte er an die dunkle Eichentür, welche in die Bibliothek des Hauses führte.

Sein Herr stand am Fenster, blickte jedoch in seine Richtung, als er eintrat. Er lächelte dem alten Mann zu. Wie an jedem Morgen in den letzten Tagen trug sein Herr schlichte und sehr pragmatische Kleidung. Lange Beinkleider aus dunkelgrauem Leder, die in schwarzen, festen Stiefeln steckten. Ein Wams aus weißem Leinen, dazu einen Mantel aus blauem Filz. Seinem Stande völlig unangemessen. Der alte Mann schüttelte kaum merklich den Kopf, während er eine weite Robe aus türkisener al’anfanischer Seide über das große Lesepult legte.

“Ihr solltet nicht so auf den Straßen herumlaufen, Herr”, sagte er in einem leicht vorwurfsvollen Ton. “Man hört schon die Leute reden.”

Der Jüngere zuckte die Schultern.

Der alte Mann tat es ihm einen kurzen Moment später gleich und seufzte leise.

“Eure Garde wartet bereits unten bei der Kutsche.” sagte er schließlich und zupfte am Saum der Robe, welche er gerade abgelegt hatte. “Heute Mittag tritt der Ältestenrat zusammen und ihr habt vorher noch Termine und Verpflichtungen im Tempel.”

Die braunen Augen des Mannes am Fenster folgten jedem feinen Handgriff des alten Dieners, der die sauber gebügelte Robe noch einmal überprüfte und an verschiedenen Stellen glatt strich. Er lächelte liebevoll, ließ den Alten korrigieren, was nach dessen Meinung noch korrigiert werden musste und ging zu dem Wandschrank zu seiner Rechten. Er öffnete ihn und nahm einen Gürtel samt Wehrgehänge von einem Haken. Das graue Leder wirkte noch wie neu und glänzte geschmeidig im Licht der morgendlichen Sonne. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie der alte Mann bei dem klirrenden Geräusch herumfuhr und ihn missbilligend ansah. Er meinte, diesen Blick sogar durch die offene Tür des Schrankes zu spüren, die zwischen ihnen war. Er schnallte Gürtel und Gehänge um, überprüfte den Sitz und nahm sodann eine gebogene, schwarze Klinge von über einem Schritt Länge aus dem dafür vorgesehenen Regal. Er drehte sich um und hielt die Waffe ausgestreckt vor sich ins Licht um sich davon zu überzeugen, dass nichts davon die Klinge in einer Reflexion wieder verließ; der Nachtwind wogte in seiner Hand sanft wie die Schiffe in den sanften Hafenwellen hinter ihm und leicht wie das Schilf an den Ufern des Großen Flusses. Dabei ignorierte er das leise, empörte Brummen des Hausdieners. In einer flüssigen Bewegung steckte er die Waffe in die dafür auf seinem Rücken vorgesehene Scheide des Wehrgehänges. Dann griff er erneut in den Schrank und holte die zweite darin befindliche Klinge hervor. Diese war schmaler und  gerade. Anders als die erste, befand sie sich bereits ein einer einfachen ledernen Ummantelung. Der Griff war ebenfalls mit einem rötlichen Leder umwickelt und der Knauf steckte unter einer ebensolchen Kappe, welche fest um den Griff verschnürt war.

Ohne grosse Eile befestigte der Mann die Waffe an der rechten Seite seiner Taille und schloss den Schrank wieder. Er ging an dem alten Diener vorbei über den Flur und durch ein Schlafgemach mit Himmelbett in ein großes Badezimmer. Trippelnde Schritte folgten ihm.

Vor einem Spiegel blieb er stehen, ergriff ein grünes Fläschchen, goss etwas Öl in seine Hände, verreib es kurz und legte sodann seine Haartracht nach hinten, sodass sie ihm nicht mehr ins Gesicht falle konnte. Ein angenehmer Duft nach Jasmin und Lavendel verbreitete sich im ganzen Raum, der Erinnerungen an das Liebliche Feld weckte; er hielt einen kurzen Moment inne und genoss den wohltuenden Geruch. Dann drehte er sich um und Blickte in die Augen seines Hausdieners, die ihn missbilligend musterten. In seinem Gesicht jedoch lag keine Strenge, als er mit fast gleichgültiger Stimme sagte: “Es kümmert mich gerade nicht, was die Leute denken und noch weniger was sie reden.”

Doch das war nicht wahr. Vielmehr kümmert es mich gerade im jetzt umso mehr.

Dieser entgegnete aufgeregt: “Nun, aber das sollte es. Ihr seid ein Mann von hohem Stand. Und ihr ward jetzt lange nicht in der Stadt. Es gibt Dinge, um die ihr euch kümmern solltet. Stattdessen verlasst ihr jetzt bereits am dritten Tag in Folge in diesem fast schon rondrianischen Aufzug das Haus……”

“Ich bezweifle, dass mich die Diener der Leuin so bezeichnen würden, mein guter Melcher” unterbrach ihn der Jüngere, “aber genug jetzt. Lass mir Frinkor holen und meine Amtstracht zum Tempel bringen. Ich werde mich dort umkleiden.”

Mit diesen Worten ließ er den alten Mann stehen und begab sich auf den Weg nach draußen.

Es gibt so viel zu tun und so wenig Zeit. Zumindest in diesem Punkt hat der alte Diener Recht. Und wenn der Jüngere Mann eines gelernt hatte in den letzten Wochen dann, dass es überall Ratten gab.

Irgendwo einige Tagesmärsche von hier, so wusste er, würde zum jetzigen Zeitpunkt ein Mann sich sein Pferd bringen lassen und vielleicht einen letzten friedlichen Moment im gelbgoldenen Licht der Morgensonne genießen; bevor er den Blick abwand und diesen Frieden tief in seinem Inneren einschloss; um ihn mitzunehmen. Ihn mitzunehmen in Richtung eines Ortes, an dem die Erinnerung an ihn derart kostbar war, dass sie zu verlieren sich niemand leisten konnte, der dorthin aufbrach.

Und an diesen Ort würde auch er gehen müssen. Sein Blick wanderte beim Gehen noch einmal von dem nun leeren Schreibpult durch den vertrauten Raum hin zu dem Fenster, in welchem sich die Stadt, der Fluss, das Meer und das Licht der Sonne voll tiefer Ruhe spiegelten. Er atmete tief ein und schloss die Augen und damit den kostbaren Moment ein; um ihn mitzunehmen. Tief verborgen mitzunehmen…